Die Wiederentdeckung der grünen Liebe.

Von Wojciech Czaja, 19.01.2022

In den letzten Jahren wurden Büros immer cooler und smoother. Doch diese Zeit scheint nun vorbei. Dank jüngsten Entwicklungen in der Digitalisierung und Corona-Bürokultur sehnen sich immer mehr Menschen nach Grün, natürlichen Werkstoffen und einem stärkeren Bezug zu Mutter Natur. Eine Liebeserklärung an Biophilic Design.

Steve Mitrione von der University of Minnesota beobachtete, dass bei Patienten, die auf eine grüne Hecke blicken, mehr Alpha-Aktivität zu verzeichnen ist. Sprich: Sie empfinden Entspannung. Bei Patienten hingegen, die auf eine Betonwand schauen, nimmt die Beta-Aktivität zu. Sie haben Stress.

Roger S. Ulrich, Architekturprofessor am Center for Healthcare Building Research an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg, stellte fest, dass Patienten mit Aussicht in den Garten schneller gesund werden als solche, die auf eine Ziegelwand blicken müssen. Der Aufenthalt im Krankenhaus werde dadurch verkürzt.

Und Clare Cooper Marcus, emeritierte Professorin für Landschaftsarchitektur an der University of California in Berkeley, erkannte, dass Patienten in grüner Umgebung weitaus weniger Schmerzmittel benötigen und im Schnitt um ein paar Tage früher das Krankenhaus verlassen als Patienten ohne natürliche Umgebung. Im Krankenhausbau finden die wissenschaftlichen Studien der 1990er- und 2000er-Jahre seit geraumer Zeit Anklang. Die Planung von Spitälern wäre ohne die Leitlinien der sogenannten Biophilic Architecture heute undenkbar, deren Betrieb weitaus ineffizienter und somit auch kostspieliger, denn jedes unnötig belegte Bett verschlingt volkswirtschaftliches Vermögen – in Österreich kostet ein Krankenbett aktuell 682 Euro pro Tag.

Grüne Büros.

Die Vorteile biophiler Innenraumgestaltung lassen sich auch auf den Office-Bereich übertragen, denn schlecht gestaltete Arbeitsplätze schlagen sich in Unzufriedenheit, ungutem Arbeitsklima, gesundheitlichen Beschwerden, steigenden Krankenstandstagen und letztendlich auch in einer entsprechend niedrigen Arbeitseffizienz nieder. Oder, wie Andreas Gnesda, Geschäftsführer von teamgnesda, erklärt: „Seit zwei Millionen Jahren gibt es Menschen, seit 12.000 Jahren leben wir in Häusern, und erst in den letzten Jahrzehnten haben wir damit begonnen, vielen Menschen am Arbeitsplatz den Bezug zur Natur zu nehmen. Wie können wir ernsthaft davon ausgehen, dass das ohne Konsequenzen bleiben kann?“

Nach vielen Jahren zunehmender Digitalisierung und Virtualisierung sowie immer cooler werdender, marketinggetriebener Office-Gestaltung, in der schöne, medial reproduzierbare Bilder im Vordergrund standen, so Gnesda, steige wieder die Sehnsucht nach einer gewissen Natürlichkeit am Arbeitsplatz. „Die fotogene Bespaßung der Informationsgesellschaft ist zu Ende. Die Menschen wollen endlich wieder mehr Bezug zur Natur. Sie wollen ins Grüne hinausschauen können, sie wollen Kontakt zu natürlichen, authentischen Materialien, und sie wollen wieder olfaktorisch stimuliert werden, ohne dabei nur Lacke, Klebstoffe und Weichmacher zu riechen.“ Eine besonders wichtige Rolle spielen Pflanzen, die Nähe zu Wasser, Lichtgestaltung, natürliche Baustoffe sowie unregelmäßige, dynamische, sich über den Tag verändernde Sinnesreize, was etwa Licht, Aussicht und Temperatur betrifft. Die wichtigsten Elemente wurden vom US-Beratungsunternehmen Terrapin Bright Green und einer Forschungsgruppe rund um Christopher Alexander, Judith Heerwagen, Stephen Keller und Roger S. Ulrich (ja genau, dem Herrn der Krankenhausstudien) in den sogenannten „14 Patterns of Biophilic Design“ festgehalten. Vielen Unternehmen dienen die 14 Leitthesen bereits als Grundlage für die Gestaltung ihrer Bürogebäude.

Pflanzen im Bürobereich sorgen für Frische und Leichtigkeit, sie erden und beruhigen uns, und sie sind regelrecht perfekte Symbole für Individualität.

 

Natürliche Umgebung für hochtechnisierte Produkte.

„Eines der subtilsten, aber konsequentesten Beispiele für Biophilic Design ist die Möblierung der weltweiten Apple-Shops“, erklärt Christian Prasser, der sich mit seinem Büro CP Architektur unter anderem auf die Interior-Gestaltung von Büros, Shops, Hotels und Gastronomie spezialisiert hat. „Die hochmodernen Apple-Produkte werden dabei inmitten von Zimmerpflanzen und warmer Lichtchoreografie auf ziemlich massiven Holztischen präsentiert. Das natürlich belassene Eichenholz mit seiner starken Maserung bildet dabei den perfekten Kontrast zu den hochtechnischen Produkten. Auf weißen, cleanen, charakterlosen Oberflächen würden die iPhones, iPads und MacBooks atmosphärisch komplett untergehen.“ Aus genau diesen Gründen, so Prasser, müsse man auch in der Bürogestaltung umdenken. Habe man zum analogen Arbeiten noch glatte und helle Oberflächen benötigt, so sei dies im Zeitalter von digitalen Arbeitsprozessen und immer besser beleuchteten Devices eher hinderlich. „Slicke Büroeinrichtungen und perfekte, minimalistische Lobbys, wie wir sie aus den 2000er-Jahren kennen, als namhafte Konzerne mit ihrer reduzierten Architektursprache zu weltweiten Trendsettern wurden, sind heute undenkbar. Mit der zunehmenden Digitalisierung, den immer besseren High-Tech-Produkten und dem absoluten Überdruss virtuellen Corona-Arbeitens sehnen wir uns heute wieder nach dem Natürlichen und Unperfekten.“

 

Umsetzung von Biophilic Design.

Wie genau das aussehen kann? „Linoleum statt Resopal, Holzfurnier statt Holzimitat, viele verschiedene Farben statt monochromer CI Farbpalette“, sagt Prasser. Und betont vor allem auch den Einsatz von Flora: „Pflanzen im Bürobereich sorgen für Frische und Leichtigkeit, sie erden und beruhigen uns, und sie sind regelrecht perfekte Symbole für Individualität, denn sie konterkarieren das Serielle und zelebrieren das Unperfekte. Nichts in der Natur ist ausnahmslos perfekt. Und auch der Mensch als Teil einer größeren Organisation ist alles andere als perfekt. Das gilt es in der Bürogestaltung zu respektieren und ins Design subtil miteinzubeziehen.“ Doch die von vielen Experten zitierten und herbeigesehnten Biophilic Design Offices bergen auch Gefahren. „Nicht alles, was natürlich ist, ist auch wirklich gut für den Menschen“, sagt die Wiener Architektin Ursula Schneider, Geschäftsführerin bei POS Architecture. „Manche Hölzer beinhalten Formaldehyd, und auch Inhaltsstoffe wie etwa Leime und eingesetzte Chemikalien zur Erhöhung der Langlebigkeit sind nicht zu unterschätzen. Tatsächlich ist es so, dass einige künstlich hergestellte Werkstoffe und Oberflächenmaterialien weitaus niedrigere Emissionen haben und für den Einsatz im Innenraum daher auch besser geeignet sind.“ Will man auf Nummer sicher gehen, rät Schneider, in der Planungs- und Bauphase ein umfassendes Produkt- Management durchzuführen – ganz gleich, ob man Lehmputz, Kalkputz, natürliche Farben, Öl, Wachs oder natürliche Möbelmaterialien wie etwa Holz, Linoleum oder Textilien einsetzt. Absolute Sicherheit erhält man durch die Überprüfung der sogenannten VOC-Werte. Die Volatile Organic Compounds geben Auskunft über das Emissionsverhalten unterschiedlicher Produkte. Schneider: „Wenn ein neu fertiggestelltes Gebäude so neu riecht, wie man das auch von neuen Autos kennt, dann ist das schon verdächtig.“

Für Bernhard Kern, Geschäftsführer der Roomware Consulting GmbH, stecken Biophilic Design, der Einsatz von Recycling-Materialien und die Selbstverständlichkeit kreislaufwirtschaftlichen Denkens noch in den Kinderschuhen. „In der Theorie sind wir schon sehr weit, denn sowohl die Industrie als auch die Fachmedien stellen Biophilic Design als unverzichtbaren Bestandteil heutiger Bürokultur dar, doch in der Praxis hinken wir noch ein wenig hinterher.“ Ist also alles nur eine Bubble? „Nein, natürlich nicht, aber tatsächlich beobachte ich, dass viele Firmen auf Biophilic Design setzen, weil sie gute Werte und möglichst viele Klima-aktiv-Punkte benötigen.

Am Ende geht es vor allem ums richtige Zertifikat. “Die ersten Ideen, Impulse und Initiativen keimen bereits, keine Frage. Innovative Pionierunternehmen in der Privatwirtschaft gehen – wie so oft – mit gutem Beispiel voran. Bis Biophilic Design aber in der breiten Masse angekommen ist und von Unternehmen mit so einer Überzeugung eingesetzt wird, wie das heute schon in der Planung und Innenraumgestaltung von Krankenhäusern der Fall ist, werden wohl noch einige Jahre vergehen. Dabei liegen die entsprechenden, zur Asset-Klasse passenden Untersuchungen und Benefits schon längst am Tisch. Cary Cooper, Professor für Organisationspsychologie und Gesundheit an der Lancaster University, stellte fest, dass Leistung, Kreativität und kognitive Aktivität steigen, wenn der Arbeitsplatz mit natürlichen Mustern und Stoffen gestaltet ist. Der Fußbodenproduzent Interface fand heraus, dass Mitarbeiter mit Blick auf Bäume im Durchschnitt weniger freie Tage nehmen als Mitarbeiter mit Straßenblick oder gar ohne visuellen Außenbezug. Und die Studie „Creating Positive Spaces“ von Oliver Heath und Well Building Standard kommt zum Schluss, dass der Einsatz von Vegetation im Bürokontext zu einem schnelleren Return of Investment kommt. Biophilie: Wie kann man bei diesen Zahlen die Natur nicht lieben?

 

Fotos: www.greenovergrey.com

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